Wie moderne Technologien den Radsport revolutionieren
Von der Straße an den Bildschirm
30.09.2021 – Isabel Lenz
Kontaktbeschränkung. Reiseverbot. Die komplette Sportwelt steht still. Fast, denn Hannah Ludwig, U-23-Zeitfahr-Europameisterin, sitzt trotzdem gemeinsam mit anderen Radsportler*innen auf dem Bike. Von der Stelle bewegt sie sich dabei jedoch nicht und ihre Mitstreiter*innen sind weit von ihr entfernt. Was im ersten Moment widersprüchlich klingt, ist für Hannah die einzige Möglichkeit, sich weiterhin in ihrem Sport fit zu halten.
Hannah ist schon vor der Pandemie sehr viel auf Zwift gefahren und findet das Indoor-Training sehr effektiv: „Man muss auf nichts achten, außer zu treten“, erzählt die 20-Jährige, „Manchmal ist das gut und manchmal auch sehr anstrengend“. Jeder der einen Smart-Trainer und einen Bildschirm besitzt, kann virtuell mitfahren. Mittlerweile sind es rund 1,4 Millionen „Zwifter“, die regelmäßig auf der Plattform mit Menschen aus aller Welt trainieren und virtuelle Wettkämpfe starten. Dabei ist das Geheimrezept der Zwift-Hersteller, den Gaming-Spaß mit dem zu verbinden, was unter traditionellem Sport verstanden wird. „An sich ist Zwift sehr realistisch, weil man beispielsweise die Steigung simulieren kann“, findet Hannah. Für sie fühlt es sich aber lange nicht so an, wie an der frischen Luft.
Ein realitätsnahes Sporterlebnis?
Da die E-Cycling-Community stetig wächst und immer mehr Sportler*innen das virtuelle Erlebnis für sich gefunden haben, müssen auch die Plattformen stetig an neuen Features und einer originalgetreuen Visualisierung der Strecken arbeiten.
„Zwift versucht zumindest, ein realitätsnahes Sporterlebnis zu schaffen“, erzählt Moritz Palm, ein ambitionierter E-Cycling Fahrer aus Mainz. „Dies gelingt dadurch ganz gut, dass für Fahrer, die virtuell in der Mitte eines Peletons fahren, Windschatteneffekte eingepreist werden. An Position 20 muss man also weniger Leistung treten, fährt aber genauso schnell wie der Fahrer an Position eins. Das funktioniert so in der Realität auch.“ Wenn der Student auf seinem Home-Trainersitzt, kann er variabel zwischen verschiedenen Perspektiven wählen. Ungünstig findet Moritz, dass Positionskämpfe, Radbeherrschung, Kurven fahren und die Teamtaktik nicht abgebildet werden können. Außerdem kann der virtuelle Fahrer einfach durch andere Fahrer „durchfahren“ und kommt so allein durch Erhöhung der Wattzahl an die Spitze des Pelotons – was eher realitätsfern ist.
Der Gaming-Faktor bleibt nicht aus
Interessant wird es, wenn Straßenradprofis gegen E-Cycler antreten. Es gibt eine Menge Faktoren, die im realen Rennen eine große Rolle spielen, in der virtuellen Welt jedoch keinen Erfolgsfaktor darstellen. Beispielsweise erhält man durch Algorithmen während des Rennens unterschiedliche Power-Ups, die man je nach Rennsituation einsetzen kann. Dass diese Booster rennentscheidend sein können, zeigt sich beim E-Sport-WM-Sieg des ehemaligen Ruderprofis Jason Osborne: Im finalen Bergauf-Sprint setzte er ein Power-Up ein, das ihn leichter machte als die Konkurrenz. So ließ er die Straßenprofis hinter sich.
Übernimmt der virtuelle Sport jetzt die Pole-Position?
Für Moritz ist klar, dass sich in der Zukunft zwei – voneinander größtenteils unabhängige – Sportarten entwickeln werden: Straßenrennfahrer*innen werden Zwift eher als Vorbereitung im Winter oder für Sponsorenevents nutzen, Online-Rennfahrer*innen indes werden sich weiter spezialisieren und eigene Rennligen etablieren. Auch Hannah trainiert immer noch regelmäßig auf der Rolle, selbst wenn sie längst wieder in der realen Welt gemeinsam mit ihren Radsportkolleg*innen fahren darf. Für sie bleibt es jedoch vorerst ein Trainingsmittel für regnerische Tage und ein absoluter Trainings-Geheimtipp, wenn man sich ausreichend motivieren kann.