Sitzvolleyball-Nationalmannschaft
Foto: flickr.com/Daniele Celesti

Laut Nationalmannschafts-Cheftrainer Michael Merten (52) birgt die Sportart Sitzvolleyball jede Menge inklusives Potenzial

„Das Sport-Inklusionslotsenprojekt ist eine super Idee“

01.05.2021 –  Julius Laux

Michael Merten, „nebenberuflich“ Sportlehrer in Berlin, ist seit 2017 Bundestrainer der Männer-Mannschaft der Sportart Sitzvolleyball, die im Sommer das große Ziel Tokio anstrebt. Mit SportInForm hat Merten über die Sportart an sich, die Nationalmannschaft, Inklusion sowie die Paralympics in Tokio gesprochen.

Wie Merten erläutert, gibt es Sitzvolleyball bereits seit den 1940er-Jahren, da etwa Menschen mit Kriegsverletzungen in der Nachkriegszeit nach wie vor Sport ausüben wollten. So habe sich – basierend auf dem klassischen Volleyball – der Sitzvolleyball entwickelt, der sich vor allem durch ein kleineres Spielfeld sowie eine logischerweise niedrigere Netz-Höhe vom Volleyball unterscheidet. Ansonsten gibt es dieselbe Spieleranzahl, welche dieselben Positionen besetzt – und es wird mit dem ganz normalen Volleyball gespielt. Kennzeichnend für Sitzvolleyball und nicht zu vergessen ist jedoch die Regel, die besagt, dass die Spieler mit ihrem Rumpf bzw. dem Gesäß immer Bodenkontakt halten müssen – laut Merten werden Verstöße gegen diese Regel seitens der Schiedsrichter im vorderen Netzbereich aber strenger geahndet als im hinteren Bereich der eigenen Spielhälfte. Außerdem darf der Aufschlag bei dieser Sitzsportart – wie vor einiger Zeit auch noch im klassischen Volleyball – geblockt werden, da es sonst für gute Aufschläger zu einfach wäre, Punkte zu erzielen. Denn Sitzvolleyballer haben meist trotz ihrer Beeinträchtigungen den gleichen „Schmackes“ in den Armen, so der Bundestrainer mit einem Schmunzeln.

Im Laufe der Zeit wurde Sitzvolleyball immer beliebter, sodass die Sportart 1980 zur paralympischen Disziplin ernannt wurde und heutzutage in vielen Ländern der Welt praktiziert wird und – wie Merten beispielhaft verrät – sogar sitzvolleyballspezifische Verbände in kleinen Staaten wie Montenegro in Europa oder wie Vanuatu im Südpazifik gegründet werden. In Deutschland existieren neben dem Frauen- und Männer-Nationalteam zwölf Sitzvolleyball-Teams auf Vereinsebene, die sich alle paar Monate zu Turnieren treffen und auch jährlich die Deutsche Meisterschaft ausspielen. Darüber hinaus wird hin und wieder zu internationalen Turnieren eingeladen.

  • Hat stets alles im Blick: Chefcoach Merten (Bildmitte hinten im weißen T-Shirt, hier beim EM-Spiel 2019 gegen die Niederlande).

Häufige Beeinträchtigungen bei den Sporttreibenden sind Amputationen im Beinbereich, Sprunggelenksverletzungen sowie fehlende Unterarme oder Hände, die jedoch im Vergleich zu Beinamputationen im Sitzvolleyball oft durch Prothesen ersetzt werden. Grundsätzlich ist die Sportart im Breitensportbereich für jedermann zugänglich, allerdings gibt es laut Merten in Bezug auf den Behinderungsgrad auch Grenzen, die das Ausüben der Sportart beinahe unmöglich machen bzw. als wenig sinnvoll erachten lassen. Auf die Frage nach geistigen Behinderungen im Sitzvolleyball entgegnet der Bundestrainer, dass diese vor allem auf nationaler Ebene durchaus vorkämen. Menschen, die beispielsweise durch Unfälle geschädigt worden seien, könnten den Sport dennoch problemlos ausüben.

Beiläufig spricht Michael Merten zudem die Empfehlung aus, Sitzvolleyball-Einheiten ins klassische Volleyball-Training einzubinden – entweder als Spaßfaktor oder Cool-Down am Tag nach einem Spiel, aber auch zur Verbesserung der Defensiv-Fähigkeiten wie dem Blockspiel oder der allgemeinen technischen Fertigkeiten, da man auf dem kleineren Spielfeld mehr darauf angewiesen sei, seine Bälle präzise zu spielen.

Was die Ausrüstung für Sitzvolleyballer anbelangt, gibt außer einer langen, rutschfreudigen Jogging- bzw. Trainingshose, die der schnelleren Fortbewegung auf dem Hallenboden dient, in der Regel keinen größeren Unterschiede zur Basis-Sportart. So sind auch Ellenbogenschoner ganz normal, Knieschoner hingegen eher selten und für die Bewegungen am Boden auch eher störend als hilfreich. In diesem Kontext verrät Merten, auch beim Volleyball kein Freund von Knieschonern zu sein, da Spieler so dazu neigen, sich schneller hinzuschmeißen und nicht wenn möglich stehen zu bleiben.

Persönlich kam der heutige Bundestrainer – wie viele andere auch (vor allem Trainer und Schiedsrichter) – über das klassische Volleyball zum Sitzvolleyball. Erstmals Kontakt zum Sitzvolleyball bekam er über einen bekannten Trainerausbilder, während er noch ein Volleyballteam in der griechischen Liga coachte. Nach den Paralympics in Rio 2016 wurde der Posten des Männer-Nationaltrainers frei, den Michael Merten seit Ostern 2017 mit viel Engagement besetzt. Merten besitzt im Vergleich zu seinen beiden Co-Trainern selbst keine internationale Trainerlizenz für den Sitzvolleyball. Allerdings sei diese auch auf höchster sportlicher Ebene nicht nötig, da inklusive Sportarten in jeglicher Position nach wie vor auf ein großes Maß an freiwilliger Bereitschaft angewiesen seien und bis jetzt – zumindest national – auch keine umfassende Ausbildungsstruktur existiere.

Spannend ist die Frage nach dem Inklusionspotenzial, das die Sportart Sitzvolleyball mit sich bringt. Merten bezeichnet Sitzvolleyball als die „optimale“ Sportart für Inklusion. Seine Begründung: „Sie ist für jedes Geschlecht zugänglich und hat eine enorme Altersspanne für aktive Spieler vorzuweisen.“ Als Beispiele nennt der 52-Jährige einen 62-Jährigen aus der Nationalmannschaft der Ukraine und einen 17-Jährigen aus seinen eigenen Reihen, der bereits mit 15 zum Team dazu gestoßen war. Beim Volleyball, das er hinter dem Fußball weltweit als am meisten gespielte Ballsportart einordnet, gibt der Sportlehrer aus Berlin für das Topniveau eine durchschnittliche Altersspanne von Mitte 20 bis Anfang 40 an und weitet diese in Bezug auf Sitzvolleyball anhand der genannten Beispiele aus. Darüber hinaus eigne sich Sitzvolleyball geradezu optimal für Inklusionszwecke, da die Ballsportart (wie die meisten anderen) in verschiedenen Variationen spielbar ist. Man kann im Breitensportbereich zum Beispiel das Spielfeld nach Belieben vergrößern oder die Spieleranzahl verringern.

Auch in Rheinland-Pfalz gibt es diverse Sitzvolleyball-Angebote. Eine gute Ansprechpartnerin ist hier Sport-Inklusionslotsin Katja Froeschmann. Das Lotsenprojekt besteht seit 2019 und stellt ausgehend von der LSB-Abteilung Gesellschaftspolitik im ganzen Land Bindeglieder bzw. geschulte Ansprechpartner*innen, die unter anderem Angebote vermitteln und Brücken bauen können. Froeschmanns Heimatverein SpVgg Burgbrohl plant ein Sitzvolleyball-Angebot, dessen Umsetzung leider nur noch die Corona-Pandemie im Wege steht. Beim Aufstellen dieses Angebots machte die Sport-Inklusionslotsin Gebrauch von der INpuls-Prämie im Wert von 500 Euro, die der Landessportbund zur Unterstützung inklusiver Angebote in Sportvereinen ausschüttet – wenn bestimmte Kriterien erfüllt sind. Jeder wird hier willkommen sein, ob mit oder ohne Vorkenntnisse. Nun wartet Katja Froeschmann geduldig darauf, bis die Hallen wieder geöffnet werden. Begeistert vom Lotsenprojekt in Rheinland-Pfalz und der Vielfalt der regionalen Angebote bezeichnet Merten dieses Vorgehen als „super Idee“ und als „Startschuss, der als Inspiration für andere Vereine und Bundesländer dienen kann“.

Auf die Frage, was er als Bundestrainer engagierten Inklusionshelfer*innen und kleineren Vereinen, die vorhaben, ein Sitzvolleyball-Angebot aufzubauen, mit auf den Weg geben würde, empfiehlt Michael Merten, sich über die Schiene Volleyball oder den Weltverband Sitzvolleyball grundlegende Infos einzuholen, verweist auf Lehrvideos oder die Möglichkeit, die Nationalmannschaften im Internet live zu verfolgen – und lädt nicht zuletzt sogar dazu ein, die Nationalteams mal in einem Trainingslager oder auf einem Turnier zu besuchen, wenn dies wieder möglich sei.

Mit den Paralympischen Spielen in Tokio steht den Sitzvolleyballern ein absolutes Highlight bevor – allerdings muss man sich Anfang Juni noch dafür qualifizieren. Doch Michael Merten ist guter Dinge: „Ich schätze unsere Chancen relativ gut ein, da wir es 2019 bereits ins EM-Halbfinale gepackt haben, das leider gegen Russland verloren ging. Deswegen ist uns der direkte Weg über das Kontinentalfinale nach Tokio verwehrt geblieben.“ Nun geht es für seine Jungs im eigenen Land gegen fünf andere Teams aus aller Welt ums letzte Ticket zu den Paralympics 2021. Merten zeigt sich trotz der Corona-Umstände optimistisch, da bis zur Quali noch insgesamt drei Trainingslager anstehen und das Team weiterhin uneingeschränkt trainieren darf, da man in diesem Fall den olympischen Kaderathlet*innen bzw. den Profi-Sportler*innen gleichgestellt ist. Aufgrund der Pandemie werden sich beim Quali-Turnier in den Hallen wohl nur Spieler, Trainer*innen, Betreuer*innen und Schiedsrichter*innen aufhalten dürfen. Laut Michael Merten wird es schon ein bisschen „komisch sein“, bei der Qualifikation das erste Länderspiel nach 16 Monaten zu bestreiten – und das ganz ohne Zuschauer. Viele andere Profi-Sportler*innen seien bereits durch Ligaspiele daran gewöhnt – im Sitzvolleyball jedoch so gut wie keiner. Wie es dann in Tokio aussehen würde, sei noch nicht absehbar. Fakt ist: Sollten Zuschauer in der Halle zugelassen sein, würde es richtig laut werden, was im Hinblick auf die Motivation der Spieler natürlich optimal sei.

Und wo sieht der gebürtige Bayer den Sport Sitzvolleyball in zehn Jahren? „Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sich die internationale Verbreitung noch weiter ausdehnt, da Jahr für Jahr, auch in kleinen Staaten, Sitzvolleyball-Vereine und -Verbände gegründet werden und der Sport zuletzt großflächig expandiert ist“, sagt Merten. Als sein persönliches Ziel beschreibt er, die rasante Sportart an sich voranbringen zu wollen, so viele Leute wie möglich dafür zu begeistern sowie eine Art Multiplikator zu schaffen – indem künftig in Volleyball-Trainer- sowie Schiedsrichterausbildungen auch Sitzvolleyball-Inhalte vermittelt werden.